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„Wir sind das Volk! Schon vergessen?“ Teil I.

Text/Fotos: © Stefan Jalowy (stj)

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„Wir sind e i n Volk!“ war n i c h t die Losung.

Berlin, 15.10.2011. „Wir sind das Volk! Schon vergessen?“. Knappe Worte in schnörkelloser schwarzer Filzstiftschrift, die eindringlich von einem schlichten braunen Kartondeckel glühen. Der bebrillte Endfünfziger in grauer Steppjacke, mit grauem Wollschal und grauer Basecap stimmt nicht mit ein in die „A-A-A-Anti-capital-ista“-Sprechchöre, die von der Spitze des Demonstrationszuges vom Alex über die Stände mit den billig nachgefertigten VoPo- und Rote Armee-Mützen und die Köpfe der neugierig starrenden, knipsenden Rest-Touristen „Unter den Linden“ entlang zum „Deutschen Historischen Museum“ schallen. Der Spruch auf dem riesigen Ausstellungsbanner an der Museumsfassade ent-larvt sich erst auf den zweiten Blick als Beleg für die - eventuell sehr gezielte - Umdeutung der Begriffe und Glaubensbekenntnisse der jüngeren deutschen Geschichte. Dem flüchtigen Passanten wird der subtile Unterschied kaum auffallen.

„Wir sind e i n Volk!“ war n i c h t die Losung, mit der die mutigen Demonstranten die herrschenden DDR-Machthaber im Herbst '89 an die Macht des wahren Staats-Souveräns erinnerten. „W i r sind das Volk!“ riefen die protestierenden Bürger und die Generäle der Volkspolizei, der NVA, der Stasi rollten ihre Pläne zur Niederschlagung des Volksaufstandes aus, befahlen schwer bewaffnete und propagandistisch wie ballistisch aufmunitionierte Regimenter in Alarmbereitschaft. Als unter dem Druck der (damals noch zu 99% werktätigen) Massen die Mauer zerfallen war, die Bürger Ost ungläubig in die Konsumglitzerwelt des Westens strömten und die Politiker West und Ost aus der Schockstarre erwachten, skandierten erst Wochen später die Noch-DDR-Bürger auf den Kundgebungen zwischen Rostock und Dresden jenes „Wir sind e i n Volk!“. Eben jene Parole, die von den Alt- und Neu-Regierenden in West und Ost als Willensbekundung des Volkes für eine rasche Einführung der D-Mark und eine schnellstmögliche Wiedervereinigung vorgewiesen wurde. Zeitgeschichtler hingegen erforschen inzwischen, ob nicht Mitarbeiter und Agenten subversiv tätiger Organisationen in den Reihen der Bürgerkomitees für die subtile Änderung der Parole von „Wir sind d a s Volk!“ in „Wir sind e i n Volk!“ verantwortlich waren.

Die Original-Losung „Wir sind das Volk!“, die der offenbar aus (dem einstigen) „Ost-Berlin“ stammende Normalbürger auf seinem handgemaltem Plakat an diesem Samstagnachmittag in das Regierungsviertel und zum Reichstag trägt, könnte heute wie damals den regierenden Politikern, den Banken- und Konzernregenten als Drohung erscheinen. Denn „das Volk“ scheint sich 20 Jahre nach jenem Herbst '89 erneut seiner Macht bewusst zu werden. Unsicher zwar und zögerlich. Teile aus unterschiedlichen Schichten dieses Volkes versammeln sich auf dem Alexanderplatz und reihen sich ein in den Protestzug gegen einen immer hemmungsloser agierenden Raubtier- und Casino-Kapitalismus, gegen einen befürchteten Verlust freiheitlicher und demokratischer Menschenrechte. Es sind eben nicht die „üblichen Verdächtigen“ und „Profi“-Demonstranten, die bisweilen unter roten oder schwarzen Bannern trillerpfeifend oder gar pflastersteinewerfend, randalierend und die bürgerliche Ruhe störend gegen globalisierte Wirtschafts- oder Finanzmächte die Strassen und Plätze stürmen. Die meisten Teilnehmer der Berliner Demonstration an diesem 15. Oktober, dem weltweiten Protesttag gegen die Allmacht der Banken und Börsen und für eine transparente, ehrliche und dem Wohl der Bürger verpflichtete Demokratie, sind eben nicht organisiert. Gehen nicht als Repräsentanten von Parteien, Initiativen, Gruppen oder Vereinen auf die Strasse. Sie sind als Bürger hier. Als Eltern mit ihren und für ihre Kleinkinder. Als Rentner und Pensionäre, die „das Alles“ schon mal mitgemacht haben und wissen, wohin das Schweigen der Massen führt. Als Schüler, Studenten, junge Berufstätige, die sich ihre Zukunft und Freiheit nicht einmauern oder prekarisieren lassen wollen. Als „Otto Normalverbraucher“, als Kleinbürger, als arrivierte Akademiker oder Freiberufler, als zwangsweise Angehörige des neudeutsch in „Prekariat“ umbenannten Proletariats aus Hartz IV-“Kunden“, outgesourcten Tagelöhnern und Scheinselbständigen, 400 Euro-Jobbern und Leiharbeitern.

Sie alle eint an diesem Tag nicht nur der weltweite Protest-Aufruf „Occupy Wall Street / Madrid / Frankfurt / Rom / Reichstag“. Sie eint die Angst vor einer „Neuen Weltordnung“, in der eine extreme Minderheit extrem Reicher sich unter Benutzung korrumpierter Politiker schleichend und staatsstreichartig die Macht über 99% der Weltbevölkerung verschaffen könnte. In der Menschen als willige und gehorsame Produktivitätssklaven, als dumpf mit „Brot und Spielen“ abgefundene Glasperlen-Empfänger und Konsumgüterumsätze sichernde Marktelemente, als jedweder Form subtiler Propaganda folgende „Neusprech“-Analphabeten beherrscht werden könnten. Beraubt jeglicher Meinungs- und Bildungsfreiheit. Statt dessen erfasst, digitalisiert, kategorisiert, klassifiziert mit „persönlicher Identifikationsnummer“, biometrischer Signatur, lückenlosem Bewegungs-, Konsum- und Kommunikationsprofil – zum eigenen Schutz, versteht sich. Die bürgerlichen Teilnehmer dieser Samstags-Demo haben Angst vor einem solchen Horror-Szenario, das vermutlich nicht mehr nur Anhängern schrill-verschrobener Verschwörungstheorien alles andere als utopisch oder als wüste Phantasterei erscheinen mag.

Der Himmel
über Berlin wölbt sich an diesem Samstag makellos blau über dem Boulevard der Hauptstadt. Unter den Linden promenieren nur mehr wenige Touristen aus aller Herren Länder und umso mehr Berliner und Tagesausflügler aus den Bundesländern. Dem Demonstrationszug, der von Hundertschaftspolizisten in grünen Einsatzanzügen in Richtung Kanzleramt und Reichstag geführt wird, haben sich ein paar Tausend Bürger angeschlossen.

Es hätten deutlich mehr Teilnehmer sein können, doch als eine Gruppe mit roten Bannern und Wimpeln der SDAJ („Sozialistische Deutsche Arbeiter-Jugend“) kurz vor Abmarsch der Demonstration sich handstreichartig an die Spitze des Zuges setzt und beunruhigend agressiv-kriminelle Parolen wie „für Euch Banker haben wir nur neun Millimeter“ und „Ackermann – auch Du wirst eines Morgens ein Paket unter'm Wagen haben“ schreit...scheren etliche „ganz normale Bürger“ erschrocken aus der Demonstration aus. „Nee, mit denen Chaoten wollen wir nix zu tun haben“, schüttelt ein älteres Ehepaar entsetzt die Köpfe. Irritiert stehen sie auf dem Trottoir und diskutieren mit einer Politikstudentin, die ihre wuschelig-weisse Malteser-Hündin „Wölkchen“ an der Leine mit sich führt, wie sie denn nun ihren Protest ausdrücken können – ohne in kriminelle Chaoten-Krawalle verwickelt zu werden. Das Pappschild mit dem aufgesprayten „Wir sind 99%“ hält der biedere Ehemann unsicher am langen Arm. Über-haupt – SDAJ. Aus welcher Versenkung sind die denn wieder aufgetaucht ?

Die einstmals von der DDR finanziell und didaktisch unterstützte leninistisch-marxistische Nachwuchsorganisation dogmatischer Kommunisten erscheint wie ein gespenstischer Anarchronismus: wo bitte ist denn im Deutschland des Jahres 2011 noch eine Arbeiterjugend auszumachen ? Wo gibt es denn überhaupt noch Arbeiter im politisch-ideologischen Sinn der „Arbeiterbewegung“ ? Wo gibt es überhaupt noch klassenbewusste Arbeiter ? Jedenfalls erweisen SDAJ-Wimpel und unverhohlen Gewalt androhende Parolen der Idee eines von der breiten Bevölkerung artikulierten Protests und Widerstands gegen undemokratische Tendenzen und Bedrohungen einen Bärendienst.

Die Bannmeile
um den Reichstag zwischen sowjetischem Ehrenmal und dem Ludwig-Erhard-Ufer der Spree, zwischen Kanzleramt und Wilhelmstraße stellt eine „Schutzzone um die Sitzungsorte der Gesetzgebungsorgane des Bundes“ dar. Demonstrationen sind hier zulässig, sofern keine Störung zu erwarten ist – und das gilt vor allem an den sitzungsfreien Tagen des Bundestages. Vom Bundestag und seinen Mitgliedern, den zum Teil von den Bürgern direkt gewählten Repräsentanten unserer grundgesetzlich garantierten freiheitlichen Demokratie, ist an diesem Samstag des weltweiten Protests gegen macht- und habgierige Bankster , untätige oder unfähige Politiker, Entmündigung und Umgehung der Mitbestimmungsrechte der Bürger nicht viel zu sehen. Ein MdB der „Grünen“-Fraktion radelt für das Antexter- und Schnittbild vor der Fernsehkamera eines „Report München“-Teams. Spendet ein freundlich~verständnisvolles Solidaritäts-Statement, die abgestellten Mannschaftswagen der Polizei-Hundertschaft hinter sich als dramatische Kulisse. Um dann aber nach Ende seines Statements und unverbindlicher Floskelei über „das wundervolle Spätherbstwetter und herrlichen Sonnenschein“ eiligst wieder in sein Wochenende zu radeln. Fünfzig Meter entfernt rangeln derweil einige Demonstranten robust mit den überraschten Bereitschaftspolizisten um die Absperrungsgitter.

Den Reichstag stürmen und das menschenleere deutsche Parlament besetzen – ja, das wäre wohl die Umsetzung des Anspruchs von „Occupy Reichstag“, den einige Dutzend Protestler erregt in Richtung des Hauptportals schreien. „Na, da steht doch „Dem deutschen Volke“ drauf...das gehört uns …!“, bemerkt eine junge Mutter mit Kinderwagen und „Puck, die Stubenfliege“-Sonnenbrille in der blonden Mähne. „Dem deutschen Volke“ heißt aber nicht „Des deutschen Volkes“ und somit ist bereits in der Inschrift auf dem Kapitell der Reichstagsfront klar gestellt, wem dieses geschichtsträchtige Parlamentsgebäude gehört. Dem Staat – und nicht dem Volk, dem es „nur gewidmet“ ist. Blutig unterstrichen wurde dieser Besitzstand zuletzt 1920, als am 13. Januar eine von KPD und USPD (Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands) zusammengerufene Menschenmenge den Reichstag stürmen wollte, in dem die Weimarer Nationalversammlung gerade über das Betriebsrätegesetz beriet. Der Chef der Berliner „Sicherheitswehr“ ließ daraufhin das Feuer auf die Demonstranten eröffnen – 42 Bürger starben, 105 wurden verwundet.

Einen Sturm
auf den Reichstag verhindert an diesem 15. Oktober 2011 der offensichtlich sehr kooperative Dialog zwischen den Anmeldern der „Occupy Berlin“-Demonstration und dem Einsatzleiter der Polizei. Überhaupt greift die Polizei sehr zurückhaltend ein. Ein Teil der Demonstranten hat Zelte und Schlafsäcke dabei und will sich – nach dem Vorbild der dauercampierenden Protestler in Madrid und New York – auf dem Gelände zwischen Reichstag und Kanzleramt bis auf Weiteres dauerhaft niederlassen. Prompt werden die ersten aufgeschlagenen Trekking-Zelte von den Uniformierten beschlagnahmt. Außer Protestrufen und eher symbolischem Geschubse leisten die Demonstranten keinen Widerstand. Die Sonne neigt sich inzwischen tief in den Westen, aber es ist noch warm und um einen Kern von etwa 300 vorwiegend jüngeren und eher einem studentisch-alternativen Milieu angehörenden Teilnehmern, die sich auf dem Rasen auf Decken und Isomatten hingesetzt haben, flanieren gut und gerne vielleicht 1.000 eher „bürgerlichere“ Bürger mit Transparenten, Plakaten oder einem Eis vom nahen Touristen-Café in ihren Händen.

Irgendjemand hat eine akkubetriebene Soundanlage mitgebracht, Michael Jackson's „Billy Jean“ wummert über der Bannmeile und die Polizisten stehen rauchend und plaudernd jenseits der Absperrung in der Sonne. Ihre Einsatzhelme baumeln beiläufig am Koppelzeug. Bis 16 Uhr hätte die Veranstaltung enden sollen – aber die Menge genießt offenbar diese Art des sonnigen Protests im Vorgarten der parlamentarischen Macht und denkt gar nicht daran, diese demokratische Bürgermeile zu räumen. Wer auch immer auf Seiten der Exekutive die Befehlsgewalt ausübt, kennt „seine Berliner“ nur zu gut und weiß: sobald die Sonne im Westen versunken ist und die Kälte die Anwesenden in Minutenschnelle frösteln lässt, wird sich die Menge deutlich verkleinern und vielleicht auch ganz auflösen. Grinsend und gelassen erläutert einer der polizeilichen Einsatzleiter auf Nachfrage, dass man zunächst „die Versammlung weiterhin dulden“ werde - obwohl ja seitens der Teilnehmer gegen das Versammlungsgesetz verstoßen werde. Nur zu gut dürften sich Polizeiführung und Innensenator der Wirkung einer Räumung unter Anwendung des „unmittelbaren Zwangs“ bewusst gewesen sein, bei der Familien mit Kleinkindern, Rollstuhlfahrer, Rentner, Schülergruppen, Hundebesitzer, elegant gekleidete Charlottenburgerinnen und anzugtragende Nachwuchsmanager aus der Bannmeile geschoben, gedrängt, getragen worden wären. OBWOHL eine solche polizeiliche Ordnungsmaßnahme n i c h t unter den Augen der medialen Öffentlichkeit stattgefunden hätte.

Denn außer dem nur kurz anwesenden ARD-Kamerateam von „Report München“ sind keine Berichterstatter der deutschen „Leit-Medien“ vor Ort. Nicht ARD und ZDF, kein Ü-Wagen von RTL, n-tv oder N24, keine Fotoreporter von BZ, Tagesspiegel oder BILD vor Ort. Noch nicht einmal mehr Fotografen der Nachrichtenagenturen. Allein Amateurfotografen oder Demonstranten mit Handies, kleinen Digitalkameras und ein AktivistenTeam einer autonomen Internet-Livestreamseite mit ihren Camcordern halten die Räumung des „Platz der Republik“ fest. Spät am Abend. Als wirklich nur noch ein vielleicht 200 Menschen zählender Kern aus eher dem alternativen Spektrum zuzuordnenden jungen Leuten auf der Besetzung des Reichstagsgeländes beharrt.
Doch selbst diese Räumung erfolgt – trotz unmittelbarem Zwang, gegenseitigem Anschreien und robusten Griffen – erstaunlich zurückhaltend. Gerade so, als wollten die für die öffentliche Ordnung zuständigen Innenpolitiker und ihre Exekutivkräfte um jeden Preis dafür sorgen, dass „die Bürger“ kurzzeitig die Möglichkeit erhalten, politischen Meinungsdampf abzulassen. Ohne Eskalation und die „Gefahr“ einer dann wohl zwangsläufig resultierenden Ausweitung der Proteste bis hin zu einer nachhaltig die Breite der Gesellschaft betreffenden Protestbewegung. Wohlwissend, dass sich die ihre berechtigten Sorgen und Proteste artikulierenden Bürger nicht als „Wutbürgertum“ diffamieren lassen. Und dass auch „der brave Deutsche“ sich seiner Macht als Souverän erinnert, wenn er zu offensichtlich bevormundet und eingeschränkt, beeinflusst und belogen, betrogen und beklaut wird. Von denen, die ihre Lektion im Herbst 1989 auf überraschende Weise lernen mussten, könnte es auch heute noch einige in den Stäben und Amtsstuben bundesrepublikanischer Autoritäten und Institutionen geben. Und ein Ergebnis dieser Lektionen könnte aus der Einsicht bestehen, dass Agitation, Propaganda, grundlegende politische Machtverschiebungen und Systemveränderungen in der Kommunikations-, Konsum- und Spaßgesellschaft sehr viel subtiler, dialektischer und digitalisierter realisiert werden könnten und müssten. Aber das sei nur der Vollständigkeit halber angemerkt.

Die staatstragenden Köpfe und Persönlichkeiten in unserer Gesellschaft sind eindeutig und über jeden Zweifel erhaben der freiheitlichen Demokratie zum Wohl aller redlichen Bürger verpflichtet. Und so heißt es auch 2011 „Wir sind das Volk!“ und das ist keine Drohung, sondern das demokratische Selbstverständnis in unserem Land in der Mitte Europas. (Fotos/Text: © Stefan Jalowy)