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Vermächtnis eines Verschollenen


Lange Zeit war er vergessen, unbekannt. Seit Ende der 1980er Jahre wird Leonid Dobyčin (1894–1936) wiederentdeckt und gewürdigt. Sein Hauptwerk, der Roman „Die Stadt N.“, liegt jetzt in deutscher Übersetzung von Peter Urban vor.

Von Monika Thees

Als Joseph Brodsky 1987 vor Studenten der Harvard University den Namen Leonid Dobyčin äußerte, herrschte verwundertes Schweigen. Der Nobelpreisträger lobte den seit 50 Jahren Verschollenen als größten russischen Prosaautor nach 1917 – seinen Zuhörern war er unbekannt. Ein Vergessener? Ein Außenseiter? Ein Opfer des NKWD? Belegt ist lediglich Dobyčins letzter öffentlicher Auftritt: Am 25. März 1936, im Jahr der einsetzenden Schauprozesse, lud der Leningrader Schriftstellerverband zu einer „Diskussionsreihe“, der anwesende Dobyčin wurde aufs Schärfste attackiert, stalinistische Hardliner schimpften seinen Roman „Die Stadt N.“ ein „zutiefst feindliches Werk“, den Verfasser als „Monster“ der „reaktionärsten Art“. Der Gescholtene habe sich erhoben, einige Worte zur Entschuldigung gestammelt und taumelnd den Saal verlassen, so Augenzeugen. Danach war er nie wieder gesehen. Dobyčin verschwand spurlos. Sein Leichnam wurde nie gefunden, die Todesumstände sind bis heute ungeklärt.

Dobyčin und sein schmales Oeuvre (23 Erzählungen, zwei kleine Romane) wurden totgeschwiegen – und vergessen. Bis in die Zeiten von Perestroika und Glasnost. Zunächst erschien in Moskau eine frühe Fassung seiner Erzählung „Evdokija“(1988), danach der Roman „Gorod N.“ (Die Stadt N.), 1999 wurden seine „Sämtlichen Werke und Briefe“ herausgegeben, später „Evdojika“ und der Roman „Im Gouvernement S.“ ins Deutsche übertragen. Der Vergessene kehrte zurück, ein Totgeglaubter und sein Werk gewannen an Kontur, seine Leser und die Öffentlichkeit Zugang zum Schaffen eines Schriftstellers, der sich jeder literarischen Strömung verschloss, nie einer offiziellen Vereinigung angehörte, der ein Einzelgänger war – und dessen Prosa zu den großen Texten der russischen Moderne des 20. Jahrhunderts gehört: kühn im Entwurf, raffiniert in der Komposition, dicht, kompakt, sperrig und eigentlich unbeschreibbar.

Peter Urban hat das Hauptwerk des 1894 in Ljucin (Ludsen) im Gouvernement Vitebsk geborenen Leonid Ivanovič Dobyčin jetzt ins Deutsche übersetzt und herausgegeben, zusammen mit einem Kommentar und einem Nachwort. Es erleichtert den Zugang zu einem Roman, der auf den ersten Blick rätselhaft anmutet, der weder Zeit noch Ort nennt, sondern aus zusammenhanglosen winzigen Momentaufnahmen zu bestehen scheint, Erinnerungsfetzen gleich, kleinen sprachlichen Tupfen, die erst im Abstand, in der Zusammensicht, Einheit und Bild ergeben: vom Leben in der russischen Provinz, genauer in Dvinsk (Dünaburg, jetzt lettisch: Daugavpils), im ersten Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts. Die autobiografischen Bezüge sind unverkennbar: 1896 übersiedelte Dobyčins Familie in die baltische Provinz- und Festungsstadt, 1902 starb hier sein Vater, ein Kreisarzt im Rang eines Kollegienrates, Leonid besuchte das Realgymnasium, später, ab 1911, wird er Ökonomie in St. Petersburg studieren.

„Die Stadt N.“ nennt Dobyčin den ca. 1934 geschriebenen, in der Ausgabe der „Friedenauer Presse“ kaum 150 Seiten umfassenden Roman. Der Titel ist Gogols „Toten Seelen“ (1846) entlehnt, Čičikov, der Seelenaufkäufer, und der Gutbesitzer Manilov sind die frühen, homoerotisch besetzten, Helden des Ich-Erzählers, sie begleiten seinen Rückblick auf die Jahre 1900 bis 1911 und auf das Lebensgefühl einer „Belle Epoque“, die erstarrt ist in feudaler Verkrustung, Konvention und Äußerlichkeit. In kurzen, lakonisch knappen Sätzen schildert Dobyčin Alltagsszenen, vermengt er fiktive und historische Realität. „Es flog die Zeit.“ Nichts geschieht, und doch unendlich viel: Der Russisch-Japanische Krieg, die Ermordung des Innenministers Plehwe im Vorfeld der Revolution 1905 als auch technische Errungenschaften (Kautschukreifen, Elektrifizierung, Telefon, Kino) werden ebenso beiläufig notiert wie der Tod Lev Tolstojs (1910) oder die Bauernaufstände, Streiks der zaristischen Ära unter Nikolaus II.

Die Sicht des Ich-Erzählers bleibt fragmentarisch, er beschränkt sich auf die beiläufige Beobachtung, zufällig aufgeschnappte Gespräche, Gesten, Begegnungen, die jahreszeitlichen Veränderungen. Doch jeder Satz, jedes Detail sind bewusst gesetzt und gestaltet, bis in die Syntax, die formale Reduktion auf klare, trockene Hauptsätze, die allein stehen ohne Bewertung, ohne Verbindung, Entwicklung oder sich leicht erschließenden Sinn. Dobyčins Prosa verzichtet auf Emotionen, sie führt Protokoll als nüchterner Spiegel einer Gesellschaft, die sich in Auflösung befindet: „In diesem Herbst infizierte sich bei einer Obduktion und verstarb mein Vater“, schreibt der Ich-Erzähler und fügt hinzu: „Bis man ihn zur Kirche austrug, stand unser Haupteingang offen, und jeder konnte zu uns kommen. Die Kellerbewohner waren viele Male da. Statt sie hinauszujagen, liefen ihnen die Köchin und das Kindermädchen entgegen, standen, von ihnen umringt, und teilten ihnen jegliche Einzelheiten über uns mit.“

Diese Sprache seziert, sie entlarvt schonungslos: die Floskeln der Erwachsenen, den sich formierenden Charakter eines Heranwachsenden, ein Ego, das sich einpasst in die soziale Umgebung eines provinziellen Spießertums – und sie weist hinaus auf den gesellschaftlich-künstlerischen Aufbruch der 1920er Jahre, den der kurzlebigen russischen Avantgarde. 1935, im Jahr der Veröffentlichung von „Die Stadt N.“, galt für Dobyčin und sein Werk bereits ein vernichtendes Urteil, ein absurdes zugleich: Er verherrliche in seinen Werken die kleinbürgerlich-bourgeoise Vergangenheit. Nichts verkennt ihn mehr. Seine erworbene Kurzsichtigkeit mindert der Ich-Erzähler durch eine Brille. Auf den letzten Seiten der „Stadt N.“ heißt es: „Ich begann darüber nachzudenken, daß ich alles, was ich bisher gesehen hatte, unrichtig gesehen hatte.“ Politisch verordnete Blindheit jedoch ist ein Ausdruck von Macht (und Angst), sie ließ Dobyčin – und nicht nur ihn – tödliche Ohnmacht erfahren, sie ließ ihn verschwinden. Bis zu der Klarsicht späterer Tage, dem Urteil eines Joseph Brodsky und der Wiederentdeckung eines Solitärs mit eigenartig subtilem Funkeln.

DOBYČIN, LEONID. Die Stadt N. Roman. Aus dem Russischen übersetzt, hrsg. und mit einem Nachwort von Peter Urban. Friedenauer Presse, Berlin 2009. 228 S., 22,50 Euro.

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