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Kein Schwarz und Weiß

DALAGER, STIG: Im Schattenland.

Roman. Aus dem Dänischen von Heinz Kulas und Jette Mez. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main. 340 S., 19,95 Euro.


Der dänische Autor Stig Dalager thematisiert in seiner bislang auf fünf Bände angelegten Jon-Baeksgaard-Reihe zeitpolitische Fragen der Moral, Gerechtigkeit und Verantwortung. „Im Schattenland“ führt den Leser in die Jahre 2001-2002, zu den Terroranschlägen auf das World Trade Center und in das Westjordanland.

von Monika Thees

Hubschrauber kreisen des Nachts über der Second Avenue, ein Auto biegt mit quietschenden Reifen um die Ecke, aus dem Fernseher der Nachbarwohnung dröhnt das ewige Rattattaa der Kriegsfilme: Der Big Apple findet keine Ruhe, und Jon Baeksgaard nur selten Schlaf. Auch nach sieben Jahren in New York hat sich der dänische Rechtsanwalt nicht an die unruhigen Nächte gewöhnt. Und wenn er schläft, was selten ist, verfolgen ihn im Traum die Fälle des Criminal Court: „Gesichter des einen Falles werden zu Gesichtern eines anderen Falles, Verurteilte verwandeln sich in Freigesprochene und umgekehrt.“ Aus John Carmical, der wegen Totschlags angeklagt und von Jon freibekommen wurde, werden am Strand von Coney Island unzählige John Carmicals. Sie werfen Sand in den Wind – oder in die Augen Baeksgaards? Schuld, Unschuld, Gerechtigkeit und Moral, nur die wachen Augen sehen klar, die Schatten folgen lautlos – als nächtlicher Alb.

Am Morgen des 11. September trifft Jon erstmals Ifrahim Mohammed, einen muslimischen Mandanten, der angeklagt ist wegen Mordes an dem jüdischen Juwelier Ellis Edelstein. Sein Fall scheint hoffnungslos, alle teuren Manhattan-Kanzleien hatten abgewinkt. Jon sagte zu. „Und dann musstest du wie gewöhnlich den Helden spielen“, kommentiert seine israelische Freundin Eve. Den „Helden“ gab Jon bereits mehrmals. Nach „Glemsel og erindring“ und „Labyrinten“ (dt. „Das Labyrinth“, 2007) bildet „Im Schattenland“ (Originaltitel: Skyggeland) den dritten Band der Baeksgaard-Reihe. Nach der Auseinandersetzung mit dem Sozialismus in der DDR und den ungesühnten Verbrechen deutsch-österreichischer Nazi-Vergangenheit greift der dänische Erfolgsautor Stig Dalager (an die 50 Prosawerke, Gedichtbände und TV-Drehbücher) in „Im Schattenland“ ein Ereignis auf, dessen apokalyptische Bilder als „breaking news“ vor fast neun Jahren über die Nachrichtensender liefen: 9/11 – ein Datum des Schreckens, ein infamer „terror attack“ fanatischer Islamisten, der weltweite Folgen hatte und bis heute hat.

Das Unfassbare dramatischer Minuten

Um 8.46 steht Eve an der Fensterfront ihres Office in der 84. Etage des südlichen Twin Towers und blickt zum Zwillingsturm: „Ein Flugzeug, das im Licht wie ein phantasmagorischer, schattenartiger Vogel mit weit aufgespannten Tragflächen auftaucht, hält Kurs auf das Gebäude und verschwindet im nächsten Augenblick mit einem enormen Krachen im Nordturm.“ Es ist kein Unfall, wie zunächst vermutet, sondern ein Selbstmordanschlag, ein zweiter folgt. 17 Minuten später, um 9.03, rast eine Maschine der United Airlines in den Südturm des WTC. „Mit einem ungeheuren Krachen trifft der riesige Flugzeugkörper wie ein Projektil [...] auf die Südmauer aus Stahl und Beton und dringt tief in Richtung der Nordwand ein.“ Stig Dalager schildert das Unfassbare dieser dramatischen Minuten: Menschen, die verzweifelt einen Ausgang suchen, die gefangen sind in Fahrstühlen und hinter geschlossenen Brandschutztüren, Menschen, die aus den brennenden Türmen in den Tod springen.

Es war ein Massenmord, minutiös geplant von dschihadistischen „Gotteskriegern“ im Al-Qaida-Gefolge Osama bin Ladens. Unter den Opfern über 3.000 Tote, darunter Helfer, Feuerwehrmänner, Sanitäter, 6.000 Verletzte, unter ihnen auch Eve. Jon, über Handy benachrichtigt, gelingt es, die Schwerverletzte vor dem Einsturz des Südturms in Sicherheit zu bringen, jetzt liegt sie im Memorial Hospital und Jon rekapituliert seine morgendliche Begegnung mit Ifrahim Mohammed. Dieser beteuerte seine Unschuld, deutete nur an, er sei Opfer einer Verschwörung geworden, weil er einem größeren, viel perfideren Plan auf die Spur gekommen sei ... Was ist wahr? Wie kann Jon Baeksgaard es beweisen? Wie kommt er an den Film, aufgenommen von der Überwachungskamera in Mohammeds Autowerkstatt? Die Videoaufnahmen wären das Alibi und würden bezeugen, so Jons Mandant, wie ein gewisser Benzir Zawawi und zwei andere ein Attentat auf eine oder mehrere Subwaystationen in Brooklyn planten.

Keine einfachen Antworten

Stig Dalager hat sich viel vorgenommen und die Hürden hoch angelegt. Doch: 9/11, mutmaßliche Terrorzellen, die sich in der Moschee in der Atlantic Avenue trafen, die verschwundene Filmkassette, gewaltbereite Fanatiker, der tödliche Schuss auf Jons Mitarbeiterin Michelle Beauxchamp, dann der erzwungene Deal mit US-amerikanischen Antiterrorermittlern, die antimuslimische Hysterie, die in den Vereinigten Staaten wütet, Georges Bushs „Krieg gegen den Terror“ – das ist alles ein bisschen viel für den taffen „Helden“ Jon Baeksgaard – und für uns. Jons unermüdlicher Kampf um Gerechtigkeit, seine innere Zerrissenheit zwischen Eve und seiner früheren Partnerin Sine samt autistischem Sohn in Wien, seine Skrupel, Widersprüche, seine Albträume des Nachts – die Spannung läuft auf Hochtouren und damit auch zuweilen leer, die Dichte der Erzählung erschöpft sich zunehmend in der Fülle der Bezüge, Verweise, Hintergründe. Wir kommen kaum zu Atem, verheddern uns als Leser in den Erzähl- und Dialogsträngen und hechten durch die 340 Seiten – auf der Suche nach dem Ausgang, dem einen, großen, überschaubaren, eindeutigen Plot.

Ohne Zweifel, Stig Dalager hat gut, sauber und gründlich recherchiert, sein Anliegen ist ehrsam und alle angeschnittenen Themen sind mehr als eine Erörterung wert. Dalager wägt ab, bezieht Stellung und weiß, wie wir, dass einfache Antworten, gerade zu Fragen der Verantwortung, der Schuld und der Moral, meistens nur schlechte, bequeme sind. Die Wirklichkeit ist hochkomplex, die politische Debatte vielstimmig und kontrovers, der islamistische Terror eine Realität, die uns spätestens seit 2001 immer neue Schlagzeilen liefert. Die Wunde des Ground Zero schmerzt, die westliche Welt ist nicht unverwundbar, ein Frieden in Nahost, im Irak oder in Afghanistan mehr Wunsch als Wirklichkeit. Jon Baeksgaard kann sich keine Pause gönnen, das fordern die Schwachen, die Unschuldigen, die Opfer. Einer inneren Dringlichkeit folgend, jagt er den untergetauchten Benzir Zawawi in Hebron, Jon wird von Scharfschützen angeschossen, fährt, wieder halbwegs genesen, zum Kontrollpunkt, will mit dem Bus über die Grenze nach Jerusalem, muss wie alle Mitfahrenden aussteigen und sich in der glutheißen Sonne aufstellen.

Der israelisch-palästinensische Konflikt findet keine Ruhe, und Jon Baeksgaard auch in Eves Heimatland nur selten Schlaf. Das war 2002. Israels Siedlungsbau in Ost-Jerusalem stößt derzeit, im Frühjahr 2010, berechtigt auf internationale Kritik. Erst Anfang März 2010 endete einer der größten deutschen Terrorprozesse mit hohen Haftstrafen für die Angeklagten der sogenannten Sauerlandgruppe. Am 2. April 2009 wurde als bisher letzte Person das 1624. Opfer beim WTC identifiziert, auf dem Ground Zero entsteht ein neuer Gebäudekomplex mit einem Memorial. Und Stig Dalager schließt seinen Roman „Im Schattenland“, wohl wissend, dass wir unsere Augen vor dem Sand schützen müssen, der die Sicht trübt auf Recht und Unrecht, Unschuld und Schuld, mit den Worten: „Er sitzt wieder am Fenster. Wohin die Fahrt geht, bleibt auch ihm noch verborgen. Die Sonne brennt.“ Jon Baeksgaard wird wach bleiben und aufmerksam. Der Leser darf gespannt sein: Nach „Langsam kommt das Licht“ (2009, u. a. eine Auseinandersetzung mit dem Irak-Krieg und der westeuropäischen Anti-Terror-Gesetzgebung) arbeitet Stig Dalager derzeit an einem fünften Jon-Baeksgaard-Band.

DALAGER, STIG: Im Schattenland. Roman. Aus dem Dänischen von Heinz Kulas und Jette Mez. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main. 340 S., 19,95 Euro.

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