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Der russisch-tschuktschische Autor Juri Rytchëu erzählt aus seinem Leben. „Alphabet meines Lebens“ ist eine heiter-ironische Hommage an seine Heimat Tschukotka und das letzte Werk des im Mai 2008 verstorbenen Schriftstellers.

Von Monika Thees

© Die Berliner Literaturkritik

Tschukotka liegt im äußersten Nordosten Sibiriens, zwischen Arktischem Meer und der Bering-See, die Eurasien von Alaska trennt. Die Halbinsel am Polarkreis ist die Heimat der Tschuktschen oder Luorawetlan (wahre Menschen), wie sich ihre Bewohner selbst nennen, knapp 12.000 Männer und Frauen zählt ihr Volk heute noch. Ihre Nachbarn waren im Osten die Aiwanalin, die Eskimos, im Süden die Korjaken und Lamuten, im Westen die Jakuten. An der Küste lebten sie von der Jagd auf Walross, Robbe und Wal, im Landesinneren von der Rentierzucht. Im 17. Jahrhundert setzte die russische Besiedlung ein, die „Tangitan“ stiegen von „geflügelten schwimmenden Inseln aus Holz“, sie kamen über die Bergmassive und durchquerten die Täler der Tundraflüsse von Jakutien. Sie versuchten die Völker des Nordens zu unterwerfen, mittels Waffengewalt und durch Waren: Tabak, Kohle, süßen Sirup und Alkohol. Aus dem Zarenreich drangen Abenteurer, Soldaten, Händler, später dann die Vertreter der Sowjetmacht. Sie brachten eine fremde Sprache, das Dampfbad, den Kolchos, das zweifelhafte Ideal eines „neuen“ Menschen.

Die Sowjets zwangen die Tschuktschen sesshaft zu werden, sie belächelten ihre Traditionen, Sitten und Gebräuche. Doch ein Luorawetlan, der die Gewohnheiten seines Volkes verloren hatte, wurde verächtlich „Mensch, der einem Tangitan ähnlich geworden ist“ genannt, schreibt Juri Rytchëu, der wohl bekannteste Schriftsteller tschuktschischer Abstammung. 1930 als Sohn eines Jägers in der Siedlung Uëlen geboren, arbeitete Rytchëu zunächst in der regionalen Hauptstadt Anadyr, studierte später in St. Petersburg (damals Leningrad) und wurde durch seine Erzählungen und Romane (darunter ,,Wenn die Wale fortziehen“, 1992, „Unna“, 2005, „Polarfeuer“, 2007“) zum Zeugen einer bedrohten Kultur. „Alphabet meines Lebens“ nennt er seinen 2006 bis 2008 entstandenen Erzählband, eine Folge von über 50 Episoden, ein „Reiselexikon“, in dem Rytchëu vom Volk der Tschuktschen und dessen Sicht auf die Welt erzählt. Es sollte sein letztes Werk werden, im Mai 2008 verstarb Juri Sergejewitsch Rytchëu im Alter von 78 Jahren.

Man könne dieses Buch auf irgendeiner Seite aufschlagen, es am Strand, in der Badewanne oder ganz bequem im Sessel lesen, verspricht Rytchëu. „Das Alphabet“ ist geordnet nach Stichpunkten in russischer, tschuktschischer sowie deutscher Sprache und gegliedert in der Folge der russischen Fassung: Hemd, Brot, Kälte – sehr einfach und elementar sind die Begriffe, der Rückblick Rytchëus setzt sich zusammen aus Puzzlesteinen, zusammen ergeben sie ein Bild der Vielgestaltigkeit und Fülle. Bei manchen Überschriften fehlt eine Übersetzung, es gibt kein tschuktschisches Wort für „Stempel“, „Bestrafung“ oder auch „Elektrizität“: Das „wundersam helle“ Licht flammte in den 1930er Jahren zuerst in den Fenstern der Polarstation nahe Uëlen, danach im Leuchtturm auf dem Felsen Eppyn auf. „Iljitschs Lampe“, die Glaskugel mit dem kaum sichtbaren Draht, sollte in jeder Jaranga (Wohnzelt der sibirischen Nomaden) leuchten. Bekanntlich wurde nichts aus Lenins Plan der „Elektrifizierung des ganzen Landes“. Von den vier nackten Glühlampen im Klassenzimmer Rytchëus brannten lediglich drei.

Stattdessen wurden Erdöl, Erdgas und Gold aus der tschuktschischen Erde geraubt, die seltenen Tundrawälder abgeholzt. „Im Gebiet Tschaunsk, dessen Territorium so groß wie das eines mittleren europäischen Staates ist, gibt es keinen einzigen Fluss mehr, in dem sich Fische tummeln. Die riesigen Weiten der Tundra erinnern an eine Mondlandschaft. Die Spuren der Raupenschlepper ziehen sich über Tausende Kilometer hin, sie sind wie nicht heilende Wunden auf dem verletzlichen und dünnen Tundraboden.“ Die „Errungenschaften“ der Zivilisation hinterließen ein Desaster, von dem sich die sensible Ökologie der arktischen Region wohl kaum mehr erholen wird. Doch Rytchëu wird selten so konkret. Seine Rückschau enthält keine Anklage, keinen Zorn. Mit (alters)mildem Blick schaut er auf die Jahre seiner Kindheit und Jugend zurück, heiter-ironisch berichtet er vom sibirischen Alltag in vielen, uns bislang unbekannten Facetten, er erzählt zuweilen verschmitzt, aber immer aus eigenem Erleben.

Diese Authentizität und die Lebendigkeit der geschilderten Figuren und Szenen machen den Reiz des Buches aus. So, wenn er erzählt, wie er im Wald außerhalb Leningrads zum ersten Mal in seinem Leben Blumen pflückt und seiner (späteren Ehefrau) Galja, einer Russin, einen Strauß Kartoffelblüten überreicht. Wie er, der von allen Rytchëu Genannte, zu seinem russischen Namen und Vatersnamen Juri Sergejewitsch kam (nach einem befreundeten Meteorologen auf der Polarstation an der Prowidenije-Bucht). Oder erklärt, warum das tschuktschische Wort für ein weißes Stoffhemd auch heute noch „Läusefänger“ (mytschykwyn) lautet. Lygewetgaw, die tschuktschische Sprache, zeichnet sich durch „wundervolle“ Eigenschaften aus: Es gibt nicht nur dreimal mehr Fälle als im Russischen, in einer einzigen grammatischen Form, beispielsweise eines Verbs, werden Zeit, Richtung, Adjektiv und Zielobjekt ausgedrückt, neue Gegenstände bezeichnet das Tschuktschische durch genaue, oft sehr poetische Analogien: tinlylet, die Brille, heißt beispielsweise wörtlich übersetzt „Eisaugen“.

Rytchëu ermöglicht die Nahsicht auf sein Volk: Denn „vieles, was über kleine Völker geschrieben wird, ist eine Fantasie von Leuten, die durch ein Fernglas auf das Ufer schauen“, schreibt er und führt uns zur Robbenjagd aufs Meer, er schildert eine Kanufahrt zur Sankt-Lorenz-Bucht und die Betrunkenen, die an „Festtagen“ („Es lebe die große Oktoberchristmas“) auf den Straßen von Uëlen liegen. Auch dies gehört zu Rytchëus Leben, wie der Tod seines Großvaters Metlin durch den Vorsitzenden des Tschuktschischen Revolutionskomitees, die verhafteten Schamanen und „Kulaken“, wohlhabende Rentierzüchter, die sowjetische Milizionäre durch die Siedlung transportierten. „Die Tschuktschen waren die Einzigen, von denen geschrieben stand, dass sie ‚ein Volk seien, das dem russischen Zaren nicht völlig untertan’ ist“, schreibt Rytchëu. Von ihrer Selbstbehauptung in Zeiten der Sowjets und in den Jahren des Umbruchs in den 1990er Jahren handelt sein „Alphabet“. Und von den Wegmarken seines Lebens in Uëlen, Anadyr und St. Petersburg. „Ich könnte mein ganzes Leben an diesem Buch fortschreiben“, hat er in der Nachbemerkung notiert. „Alphabet meines Lebens“ wurde Rytchëus Vermächtnis, eine liebevolle Hommage an seine Heimat Tschukotka und sein Volk.

RYTCHEU, JURI: Alphabet meines Lebens. Mit Bildern aus Juri Rytchëus Familienalbum. Aus dem Russischen von Antje Leetz. Unionsverlag, Zürich 2010. 384 S., 22,90 Euro.

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