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Das Dorf - Wandel und die Bewahrung von Identität


Klaus Brill erkundet die große Welt in der kleinen. Am Beispiel seines Heimatortes Alsweiler/Saar schildert der Auslandskorrespondent der „Süddeutschen Zeitung“ die Auswirkungen der Globalisierung in der kleinsten Einheit – dem Dorf.

Von Monika Thees

Das Dorf ist die kleinste regionale Siedlungsgemeinschaft, ein historisch gewachsener, landwirtschaftlich geprägter Lebens- und Kulturraum – überschaubar und abgegrenzt, oft idyllisch verklärt oder als provinziell, rückständig abgetan. Hier lebt, trotz anhaltender Zugkraft der Großstadträume, die unbeachtete Hälfte der Menschheit – bis zum Jahr 2006 war es noch die Mehrheit. In der EU gibt es mehr als 140 000, in Deutschland rund 30 000 Dörfer, eines davon ist Alsweiler/Saar, seit der Gebiets- und Verwaltungsreform 1974 ein Ortsteil der Gemeinde Marpingen, 2006 knapp 2 000 Einwohner zählend, Tendenz sinkend. Alsweiler ist ein Mikrokosmos, eine kleine wirtschaftlich-soziale Einheit, in der sich die große Welt spiegelt, die Welt des strukturellen Wandels und der Globalisierung.

Längst hat diese den letzten Flecken erreicht: mit Waren, Information, internationaler Verflechtung – und tief greifenden Veränderungen: Die Stromversorgung ist internationalisiert, jeder Bankautomat eine Globalstation, jedes Telefon ein Datenterminal. Rationalisierung und Konzentration heißen die Gebote der Gegenwart. Auch in Alsweiler schließen, wie in zahlreichen Dörfern und Kleinstädten, Gasthäuser, Schulen und Kirchen, die Jungen ziehen weg, die Alten sterben, Häuser stehen leer. Ein Plakat am Ortsausgang wirbt für die „Mega Deko Mega Show Mega Animation“ im 20 km entfernten Ferienzentrum, im Schaufenster des örtlichen Reifenhandels steht der Spruch „Why run with the also-rans when you can run with the winners“. Wer verliert, wer gewinnt? Wie ändert sich das Leben im Dorf? Hat es überhaupt eine Chance, als einmaliges soziales Gefüge, als Geflecht von Gegenseitigkeit und persönlichen Kontakten? Klaus Brill, Jahrgang 1949 und in Alsweiler geboren, hat sich auf die Suche begeben und protokolliert.

„Deutsche Eiche made in China“ nennt sich der Bericht des langjährigen Auslandskorrespondenten der „Süddeutschen Zeitung“. Seit 1985 gehört Klaus Brill dem örtlichen Heimatverein an, er besuchte wiederholt seinen Geburtsort (und seine in Alsweiler lebende Mutter) an Urlaubs- und freien Tagen, baute das Mikrofon auf, zückte den Bleistift und interviewte rund 75 Personen: ein „Foreign Correspondent“ als Dorfschreiber, der als „participant observer“ seine Heimat erkundet. Einer, der bereits als Reporter durch viele Dörfer und Städte gelaufen ist – in Skandinavien, Italien, Frankreich, auf dem Balkan und in den USA, zeichnet nicht als Fremder, sondern mit dem Blick des Weitgereisten auf, was Globalisierung im Kleinen bedeutet – ganz konkret, ganz lebensnah und in Details, in denen sich alle Aspekte spiegeln: Arbeit, Leben, die Natur, der Verlust ebenso wie der Gewinn an Mobilität und Möglichkeiten.

„Mitten in Europa liegt ein unbekannter Kontinent“, schreibt Brill, „die Welt der Dörfer. Sie kommen in der großen Öffentlichkeit nur selten vor, und doch ist jedes Einzelne von ihnen ein Universum.“ Das „Kaff“ ist ein Kosmos, dessen Türen längst geöffnet sind und in dem sich die Fundamente des Lebens neu ordnen. „Wir leben in einer Multioptionsgesellschaft“, zitiert der Autor Otmar Weber, Regierungsrat im saarländischen Umweltministerium. Altes geht, Neues kommt, wir haben scheinbar die Wahl. Der Gegenwartsinspizient Brill notiert eine Überfülle an Impressionen: Die Scheunentore sind Garagentüren gewichen, man fährt mit dem Auto zur Arbeit, in Urlaub oder zum Einkaufen. Selbstversorger ist in Alsweiler keiner mehr und bereits im Jahr 2000 schloss das letzte klassische Einzelhandelsgeschäft im Ort.

Nur noch wenige im Dorf sind Vollerwerbslandwirte. Die, die es sind, betreiben Landwirtschaft als Agro-Business: Der Mähdrescher, ein US-amerikanisches Fabrikat, bemisst seine Fahrbahnen mithilfe GPS, die Ersatzteile gibt es über das Internet oder ersteigert bei eBay, die Landmaschinen fressen Diesel oder Palmölsprit aus Südostasien. Die Flächenprämie, nach EU-Recht reguliert, errechnet sich anhand von Satellitenaufnahmen, die die Landwirtschaftskammer in Lebach, Landkreis Saarlouis schickt. Und während das Obst aus heimischer Flur überreif auf den Boden fällt, dort liegen bleibt und fault, greifen die Alsweiler zu Früchten aus Chile oder Südafrika - bei Aldi in Tholey, Norma in St. Wendel oder im Marpinger Globus-Markt. Die Firma Globus indes expandiert in Russland und Tschechien, verkauft dort saarländischen Fleischkäse und die Fertigpizzas italienischer Art der St. Wendeler Marke Wagner.

Verrückte Welt, in der Entfernungen nicht zählen, in der dynamische Wandlungsprozesse längst jeden erfassen. Alsweiler Bürger pendeln kilometerweit, sie arbeiten als Angestellte, Beamte, Lehrer, Verkäufer und Ingenieure, sind tätig beim Gesundheitskonzern Fresenius in St. Wendel, im Ford-Werk in Saarlouis oder bei Arcelor-Mittal in Dillingen. Grobbleche aus dem „Provinznest“ Dillingen stecken im Shanghai Tower und in den Petronas Towers in Kuala Lumpur, werden für die Erdgaspipeline vom russischen Hafen Wyborg nach Greifswald produziert. Das Dorf ist keine isolierte Provinz mehr, sondern unterliegt den weltumspannenden Gesetzen von Angebot und Nachfrage. Gerade im Detail, im Gespräch mit Brills alten Schulkameraden und Freunden, wird offenbar, was Globalisierung bedeutet, werden ihre Vorteile, aber auch Schattenseiten sichtbar.

Sie ist eine große Gleichmacherin, dynamisch, anonym und schnell, und zielt auf den Nerv: die regionale Identität, die gewachsene Gemeinschaft, die Besonderheit, die keinen ausreichenden Marktwert erbringt: Das alte Haus, das traditionelle Handwerk, eine Lebensform, die verankert ist in dem, was wir Heimat nennen, werden verdrängt zugunsten einer Mischung, die Unterschiede nivelliert und Menschen zu Nomaden macht – in Alsweiler wie anderswo. Dabei könnte gerade das Dorf, so Klaus Brill, viele Lösungsansätze bieten, Ansätze, von denen die ganze Gesellschaft zu profitieren vermag: ein aktives Miteinander, soziale Integration, zivilisatorische Stärke, die Jung und Alt verbindet, die Identität schafft und aus dem historisch Gewachsenen Kraft schöpft für die Herausforderungen der Gegenwart sowie der Zukunft.

„Small is beautiful.“ Auf kleinster, auf lokaler Ebene setzt Bürgerengagement an, das Miteinander, das auf Selbstverantwortung gründet und gemeinsam erbaut, was wir Lebensqualität nennen: eine lebendige Mitte als inspirierender Quell, eine kreative Gemeinschaft an der Schnittstelle von Mensch und Natur. Stirbt das Dorf und damit ein Lebensstil? Wie lassen sich Modernität und Traditionsbewusstsein vereinen, was wirkt den Schrecknissen der Globalisierung entgegen, dem Tod der Dorfkerne, des Vereinslebens, dem Abriss und der Zersiedelung, sprich der Zerstörung der Landschaft? Klaus Brill hat über sieben Jahre den Umbruch protokolliert. Er wählte seinen Heimatort mit Menschen, die und deren Geschichte er kannte, mit denen er im Gasthaus saß oder am Abendbrottisch. Er zieht ein Fazit, das nachdenklich macht.

Es geht, nicht nur in Alsweiler, sondern generell im ländlichen Raum, um Autonomie und damit um Identität, um das, was sie im Saarland „Geheischnis“ (= Nähe, Für- und Miteinander, Zugehörigkeit) nennen: Und das ist viel, mehr und weit umfassender als nur ein schönes Wort.

BRILL, KLAUS: Deutsche Eiche made in China. Die Globalisierung am Beispiel eines deutschen Dorfes. Karl Blessing Verlag, München 2009. 352 S., 19,90 Euro.

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