Ein Wintermaerchen 2010

Von Günter Stanienda

Die ganze Stadt ist still geworden.
Der Lärm kann nicht mehr überborden:
Die Blätter liegen matt im Schnee,

am Waldesrand ein scheues Reh,
flatternde Fenster-Freude in buntem Gefieder,
zart-weiße Flocken schweben hernieder.

Die Antennen der Äste vibrieren leicht –
ist es der Wind, oder hat sie eine Nachricht erreicht?

Ja! Ein Kindlein, ein Schneemännlein ist erschienen,
es soll, so heißt es, der Menschheit dienen.

Doch, wer sich über das Kleinod beugt
und es allzu direkt „beäugt“,
bekommt von dem Kind eine schallende Schelle!

Drum: Abstand halten, mindestens eine Elle! -
Mit Hilfe von Psychomuskel- Masseusen,
die Verhaltungskrämpfe lösen,
gelingt es, die Armkraft des Kindes umzuleiten
und stattdessen die Brust nebst Atem zu weiten.

Es spricht von nun enorm laut
und pustet so, dass es jeden umhaut!

Dies sollte künftig seine Wunderwaffe sein:
Wenn das Wunderkind was will, sagt niemand „nein“.
Als erstes „ordnet“ es an, den Schnee zu verehren,
statt ihn mit Schaufeln und Besen zu kehren.

Denn in den Flocken, die von oben kommen,
steckten Milliarden von DNA und Samen!
Deshalb solle man bei Schneefall die Arme ausbreiten,
um die kosmische Kraft ins Ich zu leiten!

Man müsse versuchen, die Luftgedanken zu erkennen,
man könne sie „gestaltlose Geheimnisse“ nennen.

Das Kind gedieh und konnte bald rechnen und reden.
Es hatte passende Worte für jeden
So versammelte sich ums „Baby“ stets eine Kinderschar,
die wusste: Wenn man nicht brav war,
nicht aufpasst, stört, oder laut hustet,
wurde man vom Odem des Kindes umgepustet.

Aber man konnte Fragen freiweg stellen,
solche, die verschlüsselte Theologie etwas erhellen.
Zum Beispiel: „Warum wird so viel altes Zeugs gepredigt?“
Die Evangelien hätten sich doch längst erledigt.


„He! Du Heide“, sagte das Baby streng,
„gleich gibt’s was, peng!
Religion heißt Tradition!
Es ist wie Vater und Sohn:
Alter Glaube braucht Perspektive:
Das eine hängt vom anderen ab;
So muss Religion mitgehen mit der Zeit,
internet-tauglich sein, kosmosweit!
Reue-Computer konstruieren,
ein Gebets-Internet initiieren!“

Die Tüftelgruppe debattierte: "Ja! Wort und Tat vergleichen,
das eigene Handeln am Computer abgleichen!
Welches Gebot hat man übertreten?
Ach ja, man vergaß ja schon wieder das Beten!
Und: Gebete speichern oder versenden,
also das Innere nach außen wenden.

Warum nicht auch per Internet Beichte!
Weil doch die Zeit dafür oft nicht reichte.
Und: Glaubensgedanken mit anderen tauschen!
Das Gottgeheimnis elektronisch erlauschen!“

In einem war man sich einig: Gott ist nicht bärtig,
sondern ringsum gegenwärtig.
ER hat nicht Augen, nicht Ohren,
sondern rings um sich Sensoren.
ER ist das Wahre Internet,
bei Arbeit, Reisen oder im Ehebett!

Strahlen sind nicht sichtbar, wie der Heilige Geist.
Die Gläubigen, aus dem Fernen und Nahen Osten,
(die uns Hartz IV und oft Nerven kosten),
lehren uns die vergessene Spiritualität!

Das Bombastische Baby schwieg –
es genoss ganz still seinen kleinen Sieg:
dass die Kinder begannen nachzudenken,
statt sich immer mit so was wie iPot abzulenken.
Und dass sie das Wundersame zu sehen lernen -
droben in den glitzernden Sternen

und hernieden: wenn ein Schneemann zu leben beginnt,
am Ende doch schmilzt und zerrinnt –
aber als tröstender Tau für träumende Seelen,

die uns am Ende manchmal fehlen.

(25.12.2010)


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