Bundestag lehnte Volksentscheide ab

Bundestag sagte Nein zum Gesetzentwurf

Direkte Demokratie auf Bundesebene erneut abgelehnt

Berlin, 12./13.11.2010. Direkte Demokratie-Forderungen, ein Sommerloch- Phaenomen? Die SPD hat das ins Bundestagswahlprogramm 2009 geschrieben, sagte die SPD-Bundestagsabgeordnete Gabriele Fograscher Freitagmittag im Plenarsaal des Deutschen Bundestages (DBT). Sogar im alten Koalitionsvertrag von 2002 steht das Ziel, Volksgesetzgebung auf Bundesebene einzufuehren.

Unter dem Arbeitstitel: Erneuerung, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit des Koalitionsvertrages der Rot-Gruenen-Bundesregierung in der 14. Legislaturperiode, heisst unter dem Abschnitt „Fuer eine lebendige Demokratie“, auf Seite 67 des Vertrages, der per Neuwahl 2005 vorzeitig endete, die Bundesregierung wolle die demokratische Teilhabe foerdern und deshalb das Ziel, Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid auf Bundesebene einfuehren. Zur Unterstuetzung politischer Entscheidungsprozesse gehoere die Nutzung des Internets für alle als Teil der e-Demokratie. Diesem Ziel diene auch die Erprobung von Online-Wahlen unterhalb der staatlichen Wahlen.

Ferner sollte die Verwaltung fuer die Buergerinnen und Buerger transparenter werden. Deshalb bringe die Regierungskoalition ein Informationsfreiheitsgesetz für die Bundesbehoerden ein. Ausserdem wollten Rot-Gruen das Petitionsrecht, ueber die Loesung individueller Anliegen hinaus, zu einem politischen Mitwirkungsrecht der Buergerinnen und Buerger ausgestalten (boell.de/2002_Koalitionsvertrag.pdf).

Die SPD glaube nicht, sagte Gabriele Fograscher Freitag in ihrer Rede, dass nur Politiker klug genug seien, komplexe Sachverhalte zu entscheiden. Das Volk sei nicht duemmer oder klueger als der Politiker. Aus diesen guten Gruenden brachte die Regierung unter Gerhardt Schroeder diesen Gesetzentwurf, Drucksache (ds) 1408503: dipbt.bundestag.de/1408503.pdf im Maerz 2002 in den Bundestag ein.

Zu den Unterzeichnern gehoerten damals der ehemalige Gruenen-Mitbegruender und Bundestagsabgeordnete Gerald Haefner. Haefner stand und steht zahlreichen Buergerinitiativen vor, jahrelang war er Vorstandsmitglied des Bundesverbandes Mehr Demokratie e.V. und seit 2009 arbeitet Haefner als Europa-Abgeordneter und Mitgestalter der EU-Buergerinitiative sowie Cem Oezdemir, der von 2004 bis 2009 dem EU-Parlament angehoerte und seit November 2008 Bundesvorsitzender der Partei Bündnis 90/Die Gruenen ist.

Die Abgeordnete Fograscher kritisierte den CDU-Bundestagskollegen Thomas Strobl, aus dem Wahlkreis Heilbronn, Baden-Wuerttemberg. Strobl habe sich in der Phoenix-Diskussionsrunde bei Anne Gesthuysen: "Ignoranz der Mächtigen? – Bürger contra Politiker", ausgestrahlt am 7. Oktober 2010 (http://www.phoenix.de/content/329789), abwertend zu den Buergerprotestlern rund um das Thema Bahnprojekt Stuttgart 21 geaeussert. Fograscher sehe allerdings den vorliegenden Gesetzentwurf auch skeptisch, so seien 100.000 Unterschriften von Wahlberechtigten noetig fuer die erste Stufe einer Volksinitiative, die dann das Recht bekaeme, beim Bundestag Gesetzesvorlagen einzubringen. Lehnte das Bundesparlament den plebiszitaer gewonnenen Vorschlag ab, sollte ein Volksbegehren zulaessig werden, bei dem eine Million Unterschriften innerhalb von sechs Monaten eingereicht werden muessten. Zu einem Volksentscheid sollte es in der dritten Stufe kommen koennen, wenn das Parlament dem Volksbegehren nicht innerhalb von drei Monaten nachkomme.

Am Ende ihrer Rede sagt die SPD-Abgeordnete Fograscher, dass sie den Gesetzentwurf ablehnen werde, aber sich mit allen Kollegen im Bundestag bis auf die Unionsfraktionen einig sei ueber das gemeinsame Ziel.

Der FDP-Bundestagsabgeordnete Jimmy Schulz erinnerte an den Gesetzentwurf der FDP vom 21. Januar 2006 zur Einfuehrung einer dreistufigen Volksgesetzgebung (ds 1600474: dipbt.bundestag.de/1600474.pdf). Schulz bestaetigte die Forderungen nach „mehr Transparenz“. Direkte Demokratie gebe es auf vielen Ebenen, demnaechst auch hoffentlich auf Europaeischer Ebene. Er selbst sei ein grosser Fan der Volkentscheide auf Laenderebene. So koenne die bayerische Verfassung nur vom Volk geaendert werden. Mit der Buergerinitiative steigere die Identifikation mit der Gesellschaft, wenn die Buerger und Buergerinnen aktiv am Entscheidungsprozess teilhaben.

Im Koalitionsvertrag 2009 auf Seite 101 der zweiten Merkel-Regierung stehen Hinweise fuer eine Demokratische Teilhabe: Die Politik richte sich daran aus, „die gesellschaftliche Veraenderung durch Internet und neue Medien positiv zu begleiten und die Lebenswirklichkeit der Mehrheit der Menschen in Deutschland zu beruecksichtigen“. Dabei werde die Innovations- und Standortpolitik, Verwaltungsmodernisierung, Teilhabe von Buergerinnen und Buergern sowie der zivilgesellschaftlichen Interessengruppen mit dem Datenschutz und der Netzsicherheit verbunden (cdu.de/091026-koalitionsvertrag-cducsu-fdp.pdf).


Wählen und Abstimmen (Bild: archiv/fs)

An dem Antrag der Linken kritisiere der Abgeordnete Jimmy Schulz die 100.000 Unterstuetzergrenze. Das sei ein zu niedriger Schwellenwert. Die zweite Stufe fest ins Grundgesetz zu verankern, wie die Linke es fordere, setze eine Aenderung im Grundgesetz voraus, sobald sich die Verhaeltnisse neu aenderten. Das sei dem Parlament nicht zumutbar. Solche Angaben gingen nur in Prozentanteilen. Die FDP wolle fuer mehr Teilhabe an politischen Prozessen das Petitionsrecht ausbauen, welches kein Instrument der Direkten Demokratie ist und arbeite mit den Koalitionspartnern daran, die digitale Gesellschaft interfraktionell mit Online-Plattformen zu vernetzen und in die Arbeit der Enquete-Kommission einzubeziehen. Damit solle eine Mehrbeteiligung etabliert werden. „Wir setzen Buergerbeteiligung jetzt um, statt Jahre lang darueber zu reden“, sagte FDP-Politiker Schulz.

Die Linke-Abgeordnete Halina Wawzyniak sagte zu Top 33, Volksgesetze ins Grundgesetz, die Demokratischen Mitwirkungsmoeglichkeiten entwickelten sich von Null auf Hundert in Deutschland in den Jahren des Mauerfalls und der Gesamtdeutschen Einheit 1989 und 1990. Sie lobte den Runden Tisch von damals als gelebte Demokratie, wo Vertreter aller gesellschaftlichen Organisationen sassen, in dem neuen Verfassungsentwurf standen damals in Artikel 98 Regeln zum Volksentscheid. Dieser demokratische Aufbruch wurde von der alten Bundesrepublik ignoriert. Wawzyniak vermute Angst bei den Ablehnern von mehr Direkter Demokratie. Sie wies daraufhin, dass die Abgeordneten des Bundestages, teilweise Gesetze im Hauruck-Verfahren beschliessen muessen, auch ohne Anhoerung mancher Fachleute oder Betroffener. Welcher Leiharbeiter hat an den Gesetzesvorlagen mitgearbeitet?

Auch gebe es Gesetzgebungsverfahren, die am Bundesrat vorbei gehen koennen, wie in der Atompolitik. Alle Staatsgewalt gehe vom Volke aus, betonte die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Linken, die Grundgesetz-Formeln. Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung mit. Damit mehr Direkte Demokratie keine mediale Sommerlochforderung bleibe, habe die Linke eine namentliche Abstimmung beantragt. Die Gruene und die SPD bezweifelten zwar die Quorenanforderungen, aber Aenderungsvorschlaege haben beide Parteien nicht eingebracht. Alle koennten heute mit Ja oder Nein stimmen, die anderen Parteien koennten dies als Symbolwahl nehmen, sagte Wawzyniak. „Direkte Demokratie ist Zumutung und Versprechen, wir sollten uns diese Zumutung zumuten“. (http://webtv.bundestag.de/)

Gruenen-Abgeordnete Ingrid Hoenlinger sagte, in ihrem Ludwigsburger Wahlkreis, Nahe Stuttgart, gehen Zehntausende auf die Strasse, aeussern sich kritisch zu dem finanziellen Fass ohne Boden, weil die Buerger befuerchten, sie muessten die Zeche bezahlen. Hoenlinger kritisierte die Durchhalteparolen fuer die Wirtschaft aus dem Projekt Stuttgart 21. Ein Schlaglicht habe es zu Deutschlands Diskussionskultur am Wochenende im Wendland gegeben. „Die Demonstranten haben stark kritisiert, dass weiter Atommuell produziert wird“. Ingrid Hoenlinger sagte in ihrer Rede, die Gruenen sind keine Blockadepartei, sondern eine Zukunftspartei. Sie vermisse bei vielen Abgeordneten den Respekt vor den Regierten, der zu Politikverdrossenheit fuehre. „Den Buergerwillen mit Pfefferspray abzspruehen“, das sei nicht demokratisch gefestigt. Die Kluft zwischen Staatsmacht und Regierten haben die Buergerproteste verkleinert.

Ingrid Hoenlinger freue sich schon auf Berlins „neue Buergermeisterin, damit wird Berlin noch buergerfreundlicher“. Es gebe viele gute Gruende fuer eine Volksgesetzgebung, deren Vertreter Gesetzesvorschlaege einbringen in die parlamentarischen Prozesse. Die Diskussionen seien fachlich und die Buergerbeteiligung foerdere das Engagement. Das fuehre zu mehr Teilhabe, ist sich Hoenlinger sicher. Dem vorliegenden Gesetzentwurf der Linken werden sich die Gruenen enthalten, die Quoren und die Fristen seien zu kurz angesetzt. Hoenlinger schlug vor, nach Fraktionsuebergreifenden Loesungen zu suchen, und plebiszitaere Vorschlaege, nicht en Passant zu nehmen. Direkte Demokratie auf Bundesebene finde sie gut, „die Gruenen wollen mehr Demokratie und zwar direkt“.

Alle Jahre wieder. Im Jahr 2009, im 60. Jahr des deutschen Grundgesetzes, diskutierten die Parlamentarier ueber Gesetzentwuerfe zur dreistufigen Volksgesetzgebung, einen davon brachte die Partei Buendnis 90/Die Gruenen ein (http://dipbt.bundestag.de/ 1600680.pdf). Der CDU-Bundestagsabgeordnete Ingo Wellenreuther warnte am 23. Mai 2009 die scheinbare Nur-Repraesentative-Demokratie seit 1949 als „geschichtliches Versehen“ zu verstehen. Volksentscheide haben das Volk in der Vergangenheit der Weimarer Zeit „aufgewuehlt und das Parlament zusaetzlich erschuettert“. Der heutigen, pluralistischen Welt koenne die Volksgesetzgebung nicht gerecht werden. Die Volksentscheide seien kein Allheilmittel, um die Waehler wieder an die Urne zurueck zu holen. Wellenreuther sagte am Freitag erneut, er sehe die Einflussnahme der Buerger auf Landesebene als gute Ergaenzung, aber die steigenden Ansprueche, wie den Normen der EU, koennten Volksentscheidungsverfahren nicht gerecht werden. Am Beispiel Stuttgart machte Wellenreuther deutlich, die Volksgesetzgebung sei zu stark von Stimmungen und damit von Stimmungsmachern abhaengig. (http://webtv.bundestag.de/)

Der CDU/CSU-Abgeordnete Michael Frieser sprach von einem Wettstreit der Fraktionsparteien. Es werde nicht gelingen zu vermitteln, die CDU/CSU oder die FDP haetten etwas gegen Plebiszitaere, „das konnten wir schon beweisen“. Seit Jahren diskutieren sie diese Formen, es geht nicht nur um handwerkliche Fehler, sondern dass in den Jahren auf keine Argumente eingegangen worden sei. Die Linke versuche etwas zu politisieren, im Ergebnis wolle die Linkspartei aber die Minderheiten instrumentalisieren und vortaeuschen, es gebe eine Gesamtgesellschaftliche Bewegung in Sachen Direkter Demokratie auf Bundesebene.

Der Themenkatalog sei nicht abgeschlossen. Welche Themen duerfen zum Thema fuer Direkte Demokratie werden? Moralische, ethische Themen sollen nicht Thema sein. Buergerbegehren wie in der Schweiz zum Minarettenverbot oder zur Todesstrafe, „ich will das nicht“, sagte Frieser. Er forderte einen Zeitgeistkatalog. Der vorliegende Entwurf verhindere nicht, dass Minderheiten an parlamentarischen Prozessen teilnehmen. „Wir haben viele Sender, aber nur wenige Empfaenger“, so Frieser. Die Demokratie solle nicht heruntergeredet werden und das Paedagogische mit einbezogen, das sei die Wiederholung, um komplizierte Sachverhalte zu verstehen. Wer sich lange mit Themen beschaeftige, sehe ein, detaillierte Anhoerungen in kleinen Fachkreisen keiner aggressiven Oeffentlichkeit opfern zu duerfen. Der CDU-Politiker Frieser wies eine Abhaengigkeit zwischen der Wahlbeteiligung mit der Einfuehrung plebiszitaerer Elemente zurueck: „Auf Länderebene funktionieren die Plebiszitaere gut und da gehoeren sie auch hin“.

„Demokratie, so die SPD Abgeordnete Daniela Kolbe, ist mehr als alle vier Jahre zur Wahl zu gehen“. Demokratie in den Unternehmen, in den Hochschulen, aber auch bei Buergeentscheiden, sei ein Mittel fuer mehr politische Beteiligung. Die Union sage, der Parlamentarismus sei die ganze Demokratie. „Denen da oben“, es aber „mal richtig zu zeigen“, das bewege die Menschen. Sie wollen nicht immer „die Klappe halten“. Die Quoren aus dem Entwurf der Linkspartei „sind eindeutig zu niedrig“. Die SPD schlug 400.000 notwendige Unterschriften fuer eine Volksinitiative und eine Million fuer eine Volksabstimmung vor. Mehr Demokratie sei noetig. Sie wolle weiter daran arbeiten.

Wie erwartet stimmte die Mehrheit der Abgeordneten des deutschen Bundestages bei der namentlichen Abstimmung zur Drucksache 17/1199 kurz vor 13 Uhr gegen die Einfuehrung einer dreistufigen Volksgesetzgebung. In namentlicher Abstimmung votierten 61 Abgeordnete fuer und 400 Abgeordnete gegen den Vorschlag, 60 enthielten sich. Die dreistufige Volksgesetzgebung wird auch dieses Mal nicht in die Verfassung aufgenommen. Der Innenausschuss hatte ebenfalls empfohlen, die Gesetzesvorlage abzulehnen (17/3609). (fs)
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Zur Zusammenfassung des Tagespunktes 33 vom 12.11.2010 beim Bundestag:

http://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2010/32214961_kw45_de_volksgesetzgebung/

http://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2010/32126189_kw45_sp_volksgesetzgebung/index.html

Hier zu den Videos der 72. Sitzungswoche: www.bundestag.de/
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Anderes Medium zum Thema: http://blog.abgeordnetenwatch.de/2010/11/12/ wie-dem-bundestag-die-abgeordneten-abhanden-kamen/


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