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Eltern über öffentlichen Leistungen informieren

Von Helmut Lorscheid Neue Seite 1

Berlin, 30. September 2008: „Das ist eine Unverschämtheit zu sagen, ein Kind braucht nur 60 Prozent des ALG-II-Regelsatzes Wir haben zwei Söhne, wenn ich so viel gegessen hätte, wie meine Söhne, sähe ich heute schlimm aus“.(1) Der so schimpfte über die Ignoranz der Hartz-IV-Erfinder, die für Kinder und Jugendliche einen gekürzten Regelsatz für ausreichend halten, heißt Heinz Hilgers und er weiß, was er sagt.

Hilgers ist nicht nur Vater von zwei inzwischen erwachsenen Kindern, an deren gesegneten Appetit er sich noch gut erinnern kann.  Er ist auch Kommunalpolitiker, einer, der seine Bodenhaftung nie verloren hat. In der eher armen Stadt Dormagen war er von 1989 bis 1994 ehrenamtlicher Bürgermeister. Seit 2004 hat er diesen Posten hauptamtlich inne. (2) Er saß für die SPD im Landtag von Nordrhein-Westfalen und ist seit Jahrzehnten aktiv im Deutschen Kinderschutzbund, dessen Präsident er seit 1993 ist.(3)

„Wer an Kindern spart, hat später höhere Kosten“, lautet ein anderer Leitsatz des engagierten Hilgers. In seiner Heimatstadt Dormagen besuchen die städtischen Mitarbeiter die Familie jedes neugeborenen Kindes. Sie überbringen nicht nur den Glückwunsch ihres Bürgermeisters zusammen mit einem Geschenk, sondern – was viel wichtiger ist – sie informieren die Eltern über das Angebot der öffentlichen Leistungen und Hilfen und stehen ihnen, falls nötig, vom ersten Tag an mit Rat und Tat zur Seite. Hilgers erklärt das so: „Jeder Milupa-Vertreter besucht die Eltern eines Neugeboren, jede Versicherung kauft sich die Adressen, um die Eltern zum Beispiel mit einer Ausbildungsversicherung zu beglücken. Es kann doch nicht sein“, so Hilgers, „dass ausgerechnet der Staat – vertreten durch die  Kommune – sich als einziger nicht um die Kinder kümmert“. Übrigens würden alle Eltern besucht, nicht nur die hilfebedürftigen Familien. Alle Kinder, reiche und arme, seien gleich willkommen.

Weil sich die Stadtverwaltung von der Geburt an um die Kinder sorge, habe Dormagen im Vergleich zu anderen Kommunen sehr niedrige Sozialkosten. Wenn andere Kommunalpolitiker ihn fragten, ob diese Fürsorge nicht zu teuer sei, antwortet Hilgers: „Wir können uns gar nicht leisten, das nicht zu machen, wir sind eine arme Stadt.“ Vorsorge lohne sich langfristig. Die Stadt Dormagen habe in diesem Jahr nur fünf Kinder in städtische Obhut nehmen müssen. In Dormagen pflegen auch Grundschullehrerinnen („es sind  alles Frauen“, so Hilgers) persönlichen Kontakt zu den  Familien der Erstklässler. Das baue Vertrauen auf, helfe Kindern und Eltern und schaffe ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Kindern, Eltern und Lehrerinnen.

Hilgers war eigentlich nach Berlin gereist, um im Haus der Bundespressekonferenz ein Buch vorstellen: „Unsere armen Kinder – Wie Deutschland seine Zukunft verspielt“.  Die Autorin Ulrike Meyer-Timpe schildert die Situation von Kindern, die in Armut geboren wurden und denen von engagierten Lehrern, Sozialarbeitern und Bürgern Hilfen geboten werden. Auch Meyer-Timpe fordert in ihrem ambitioniert geschriebenen Buch vieles von dem, was für Hilgers ebenfalls selbstverständlich ist: Ein höheres Sozialgeld für Kinder, ein Mittagessen in der Schule oder Kita, das entweder kostenlos ist oder maximal einen Euro pro Tag kostet. Ulrike Meyer-Timpe, Wirtschaftsautorin der „Zeit“, rechnet vor, dass das Alleinlassen von Kindern letztlich mehr Geld kostet als eine frühzeitige soziale Betreuung.

Gerade einmal zehn Journalisten sitzen in dieser Pressekonferenz, kein Fernsehteam ist gekommen. Dabei gab es Interessantes zu erfahren. Zum Beispiel wie die Stadt Hannover es geschafft hat, den Anteil türkischer Jugendlicher am Gymnasium innerhalb von 8 Jahren zu verdoppeln: Durch gezielte Förderung und dadurch, dass man den Eltern – vermittelt über türkischsprachige Zeitungen – dazu geraten habe, nicht stur den Schulempfehlungen der Lehrer zu folgen. Die raten oft zum Besuch der Hauptschule, die Eltern können ihre Kinder jedoch selbst in der Realschule oder am Gymnasium anmelden. In Hannover besuche nur noch ein Drittel der türkischen Jugendlichen die Hauptschule und die Kriminalitätsrate unter türkischen Jugendlichen sei halbiert worden.

Erhöhung der Hartz IV Sätze für Kinder gefordert

Erst letzte Woche waren arme Kinder schon einmal Thema, als der Paritätische Wohlfahrtsverband mit einer Expertise haarklein vorrechnete, warum 211 Euro ALG-II für Kinder und 281 für Jugendliche nicht ausreichen. Der Sozialverband forderte stattdessen eine eher bescheidene Erhöhung auf 254 bzw. 321 Euro. Ob das wirklich ausreicht, ist fraglich. Aber auch diese geringe Erhöhung wird es nicht geben. Es ist der Bundesregierung zu teuer, nicht einmal dazu sind die Regierungspolitiker bereit. Dieselben Politiker haben aber am vergangenen Wochenende sehr schnell und über Nacht 26 Milliarden Euro für die „notleidende  Münchener Großbank“ Hypo Real Estate als – voraussichtlich verlorene – Bürgschaft locker gemacht. Seit über einem Jahr überlegen die gleichen Politiker, ob man das Kindergeld erhöhen soll – Gesamtkosten knapp 2 Milliarden Euro.

Doch damit nicht genug. Statt mehr Geld forderte der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, eine Kürzung des Hartz-IV-Regelsatzes für Jugendliche.  Dass vor allem junge Menschen mit Migrationshintergrund in Städten arbeitslos seien, habe verschiedene Gründe, sagte Weise in der  „Wirtschaftswoche“. „Aber man muss auch kritisch hinterfragen, ob der Anreiz, eine Arbeit oder Ausbildung anzunehmen, für diese jungen Menschen möglicherweise deshalb zu gering ist, weil die Regelsätze noch zu hoch ausfallen.“ (4)

Proteste blieben nicht aus. Annelie Buntenbach, DGB-Vorstandsmitglied  und Mitglied des Verwaltungsrats der Bundesagentur, wies die Forderung Weises zurück. Sie erklärte:

„Wir können vor einer erneuten Kürzungsarie bei Hartz IV oder anderswo nur warnen. Sozialabbau bleibt die falsche Antwort auf die drohende Wirtschaftskrise.“ Buntenbach wies auch die Behauptung zurück, Jugendliche würden Hartz IV einer Ausbildung vorziehen. „Rund eine Million Jugendliche zwischen 15 und 24 Jahren leben von Hartz IV und wachsen somit im Hinterhof unserer Wohlstandsgesellschaft auf. Den Jugendlichen selbst den Schwarzen Peter für ihre Situation zuschieben zu wollen, ist unverantwortlich.“

Es fehle nicht der Anreiz für Arbeit, sondern die Arbeit selbst. Jüngere hätten ein doppelt so hohes Risiko arbeitslos zu werden wie Erwachsene, da ihnen die Berufserfahrung fehle, so das DGB-Vorstandmitglied. Außerdem sei es nach wie vor schwierig, einen Ausbildungsplatz zu finden, da nur 24 Prozent der Unternehmen ausbildeten. Zudem würden jüngere Hartz-IV-Empfänger schon heute schneller und härter bestraft, falls sie Job-Angebote nicht annähmen. „Leider sind diese Angebote zum großen Teil nur Arbeitsgelegenheiten, wie Ein-Euro-Jobs, die nachweislich keine Eingliederungseffekte für Jüngere bringen“, kritisierte Buntenbach. Für Jugendliche müsste deshalb die Förderung der Ausbildung absolute Priorität haben. Gerade für junge Migrantinnen und Migranten müsse mehr getan werden, damit die gesellschaftliche Integration besser gelinge. Dabei verwies Buntenbach auch auf die DGB-Zukunftscamps, die als Pilotprojekt von der BA unterstützt werden. (5)

(1) Heinz Hilgers am 30.9.08 auf der Pressekonferenz zur Vorstellung des Buchs „Unsere armen Kinder – Wie Deutschland seine Zukunft verspielt“ von Ulrike Meyer-Timpe, Pantheon Verlag

(2) http://www.dormagen.de/buergermeister.html

(3) http://www.gegen-hartz.de/nachrichtenueberhartziv/0344e19b1c0f52901.php

(4) http://www.welt.de/wirtschaft/article2504227/BA-Chef-Weise-will-Jugendlichen-Hartz-IV-kuerzen.html

(5) http://www.dgb.de/presse/pressemeldungen/pmdb/pressemeldung_single?pmid=3292

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