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Höchstpersönlich gereimte Einsichten & Ansichten

Günter Stanienda

veröffentlicht sein neues Stabreim-Bändchen „Das Muttermal“. (Foto: Copyright by Stefan Jalowy)

Günter Stanienda veröffentlicht neues Stabreim-Bändchen „Das Muttermal“

Der charmante Herr alter Schule, der von seinem kleinen Tischchen aus den Zuhörern vom Leben im Berlin der Nachkriegsjahre berichtet, ist ein ganz Moderner, ein Zeitgemäßer. Er reimt, erzählt Geschichten vom Leben und Überleben in Zeiten der Not. Der physischen wie der intellektuellen, gesellschaftlichen, geistigen Not. Und auch wenn die Kunst des Stabreims literarisch aus der Mode geraten ist – so ist sie doch der zeitgemäßen Textform des Rap-Reims nicht unähnlich. Man könnte auch sagen – obwohl altmodisch, ist der Stabreim doch im Grunde hochmodern. Jetzt hat Günter Stanienda, Jahrgang 1931, ein neues Büchlein unter dem Titel „Das Muttermal – Einsichten und Aussichten vom alten Anonymus“ herausgebracht. Zur Premiere stellte der Autor das Werk jetzt im Bürgerhaus Glienicke vor.

„Ich wurde mit siebzehn Journalist / gab mit einem Freund,was wahr ist, / die erste deutsche Schülerzeitung, in englischer (!) Sprache, heraus. / Man konnte sie auf allen Bahnhöfen kaufen, doch dann kam das Aus: / Währungsreform, 50 West-Pfennig wollte keiner mehr dafür spendieren. / Also erst mal (in Westdeutschland) Publizistik studieren und die Freiheit probieren.“ Es folgt eine Journalisten-Karriere, in deren Verlauf Günter Stanienda als Rathaus-Reporter für Berliner Tageszeitungen (u.a. „Berliner Morgenpost“) die historischen und teils hochdramatischen Ereignisse seiner Stadt als Chronist aus der ersten Reihe erlebte – und darüber berichtete. Mauerbau, John F. Kennedy’s „Ick bin ein Börliener“-Rede. Später erlebte er als (parteiloser) Pressesprecher von Bürgermeister und Innensenator Politik „von innen“, berichtete aus der damaligen Bundeshauptstadt Bonn als Parlamentsreporter für den „Springer Inlands-Dienst ASD“, wurde später stellvertretender Chefredakteur des Agenturdienstes. Doch einer wie Stanienda lässt auch im sogenannten Ruhestand weder Stift noch Keyboard ruhen. Vielmehr textet, reimt, erzählt und räsoniert das Multitalent in derartig intelligenter Hochform...dass vermutlich nur ein diskret verborgener Jungbrunnen im Garten seines Hermsdorfer Elternhauses einen Erklärungsansatz bieten könnte. Oder liegt es an Staniendas sozial-kulturellem Engagement in seiner Nord-Berliner Heimat?

Der Mann am Klavier

Als Solist an den Tasten brachte Orchester-Profi Uhl Big-Band-Schwung ins Glienicker Bürgerzentrum. (Foto: S. Jalowy)


Heimelig duftender Streuselkuchen, dampfender Kaffee stimmen auf die Kapitel seines „Muttermals“ ein, die Günter Stanienda in der warmen Stube des von Eis und Schnee fast hermetisch abgeschnittenen Bürger-zentrums Glienicke gut zwei Dutzend Zuhörern präsentiert. Und als Journalist und Autor bietet Stanienda nicht nur allererste Sprachgüte... der Mann hat Entertainer-Qualitäten. Bei ihm sind die Erlebnisse und Lebensumstände, die in seinen gereimten Erinnerungen und Einsichten Rahmen und Anlass darstellen, nicht nur einfach Zeitgeschichte. Vielmehr schildert der Publizist das Leben und Erleben in den harten Berliner Nachkriegsjahren so illustriert und dreidimensional, dass man den Duft von Muckefuck, Papyrossi oder Kohlsuppe geradezu riechen kann. Ehrfürchtig und mit erinnerndem Nicken reichen die zumeist reiferen Zuhörer die vom Autor mitgebrachten vergilbten Zeitungsexem-plare weiter.

Eine rotwangige Dame mit schlohweißer Dutt-Frisur kommentiert die Erinnerungen Staniendas an einen russischen Militärkommandanten mit einem gedämpften „Ja, ja...der Mussogorski...“. Und die Anderen nicken zustimmend und immer noch ein wenig verschüchtert, fällt ihnen doch wieder der hart klackende Martialschritt sowjetischer Offiziersstiefel auf dem seinerzeit frisch geflickten Berliner Pflaster ein. Doch auch wenn in den Lesepausen Herr Uhl vom Salon-Orchester in tadellosem Frack mit Stehkragen und schwarzer Fliege swingende Evergreens und getragene Klassik auf dem Klavier intoniert... Günter Staniendas Einsichten und Aussichten sind keinesfalls rückwärts in die Vergangenheit gewandt. Im Gegenteil – immer wieder entdeckt der Leser des mit vielen historischen Fotos aus der Berliner Reporterzeit des Autors sowie mit einigen seiner Federzeichnungen liebvoll aufgemachten und sorgfältig hergestellten Büchleins vollkommen tagesaktuelle Bezüge.

So wie diesen – durchaus presse- und medienkritischen – Kommentar Staniendas: „Heute regiert das Mikrofon / und politischer Stereo-Ton / sowie das perverse Bild. / Es gibt Pistolen, aber keinen Schild! / Die Wahrheit wird verbogen, aber sie kommt wieder. / Und es kommen auch die fanatischen Lieder.“

Nachdenklicher Publizist:

Günter Stanienda resumiert 50 Jahre als Chronist von Politik und Leben in Berlin und der Republik. (Foto: Stefan Jalowy)

Zweifellos mag es bequemere Stilformen geben als den Stabreim, kommt er doch dem ungeübten Leser auf den ersten Blick beziehungsweise die ersten Kapitel zunächst sperrig vor. Schnell aber gewinnt die teils augenzwinkernd schelmenhaft wirkende Unverkrampftheit der Reime und – die Gedanken, Spekulationen, Erinnerungen und Aussichten des Berliner Presse-Urgesteins Günter Stanienda bieten allerbeste Unterhaltung mit einem hohen Nährwert für die heutzutage leider viel zu oft mangelernährten grauen Zellen. Zumal die vom Autor gezeichneten und höchstselbst entdeckten „Chipsies“ Hinweise auf eine mögliche künftige theologische, anthropologische wie kulturtheoretische Diskussionen liefern. Denn Stanienda deutet an, dass wir alle nach unserem Ableben zu ebensolchen „Chipsies“ transformieren. Und wer den Band genau durchliest, der wird auch dem Geheimnis auf die Spur kommen, warum der Autor die „Einsichten und Aussichten“ nicht seiner Person – sondern einem logischerweise unbekannten Anonymus zuschreibt. Galant und charmant wie der Kavalier alter Schule nun einmal ist, deckt er über die eine oder andere pikant-erotische Begebenheit den eleganten Mantel der Diskretion. Ein Schelm, wer darin allzu Autobiografisches vermuten will.
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Günter Stanienda - „Das Muttermal – Einsichten und Aussichten vom alten Anonymus“, Verlag concepcion SEIDEL OHG – Hammerbrücke/Muldenhammer

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